Lebens (T)raum Friedhof

15. Dezember 2013 – 

HJ 2014Ein besonderes Ökosystem

Nicht die philosophisch-christliche Frage des Lebens nach dem Tod steht im Zentrum der Betrachtung, sondern real existierende  Lebensgemeinschaften  auf Friedhöfen.

Die Gemeinde Waldalgesheim beispielsweise verfügt über drei  Friedhöfe, die verschiedener wohl nicht sein könnten und deren ökologische Bedeutung  für Gemeinde und Region ebenso unterschiedlich ist: Der „alte Friedhof“ im heutigen Naturschutzgebiet nahe der Keltenhalle, der „kommunale Friedhof“ in der St.-Barbara-Straße und der RuheForst Rheinhessen-Nahe im Waldalgesheimer Wald.

Doch zunächst zu der Frage: Was ist eigentlich ein Ökosystem? Eine allgemeingültige Definition ist recht schwierig, da die wissenschaftliche Erklärung und die umgangssprachliche Verwendung des Bergriffes nicht deckungsgleich sind. Wissenschaftlich betrachtet, ist ein Ökosystem zunächst  einmal etwas wertfreies, umgangssprachlich wird ein Ökosystem aber als positiv und schützenswert angesehen.

Die persönliche Schätzung des Wertes, also die Wertschätzung des Ökosystems an sich, überlasse ich dem geneigten Leser und schlage die folgende „Minimaldefinition“ vor:

Ein Ökosystem setzt sich aus unbelebten (abiotischen) und belebten (biotischen) Komponenten zusammen. Die Gesamtheit der lebenden Organismen wird auch als Biozönose oder Lebensgemeinschaft bezeichnet. Die Biozönose besiedelt einen Lebensraum, ein  Biotop.

Biotop und Biozönose bilden gemeinsam ein Ökosystem.

Es gibt sehr unterschiedliche Ökosysteme, wie z.B. ein Wald, eine Wiese, ein Gewässer oder ein Moor. Im Laufe der Entwicklung eines Ökosystems vernetzen sich zahlreiche Stoffkreisläufe, wie  z.B. Wasser- oder Nährstoffkreislauf. Ein ökologisches Gleichgewicht stellt sich ein.

Biozönose, die Lebewesen im Ökosystem

Die Lebewesen in einem Ökosystem werden je nach ihrer Funktion eingeteilt:

  • Produzenten (Erzeuger) wandeln Kohlendioxid und Wasser mit Hilfe von Sonnenenergie in organische Substanz um. (Bsp.: grüne Pflanzen)
  • Konsumenten (Verbraucher) sind direkt oder indirekt auf die Produktion dieser Substanzen angewiesen. (Bsp.: Tiere und Menschen) Man unterscheidet Pflanzen- und Fleischfresser.
  • Destruenten und Reduzenten (Zersetzer und Mineralisierer): zerkleinern und verdauen organische Substanz, die in den Boden eingearbeitet und von den Produzenten aufgenommen wird. (Bsp.: Regenwürmer, Pilze und Bakterien)

Jedes Lebewesen eines Ökosystems befindet sich in einem ständigen Anpassungsprozess, um die optimalen Lebensbedingungen zu finden. Hat ein Lebewesen einen Lebensraum besetzt, so spricht man von seiner ökologischen Nische. Kämpfen zwei Arten um die gleiche ökologische Nische, so gibt es Konkurrenz um Nahrung, Brutplatz, usw.

Der kommunale Friedhof in Waldalgesheim, stellvertretend für zahlreiche „moderne“ Friedhöfe im Landkreis Mainz-Bingen:

Produzenten in Form von grünen Pflanzen gibt es zweifelsohne auf jedem Friedhof. Doch wie sieht es mit den Konsumenten aus, also jenen, die direkt oder indirekt von dieser Pflanze leben? Unerwünscht sind jene Konsumenten, die den dort kultivierten Pflanzen schaden, wie Schnecken, Kaninchen oder Blattläuse. Umgangssprachlich fasst man diese Konsumenten unter dem Begriff Schädlinge zusammen. Drehen wir den Spieß um: Unerwünscht aus Sicht der Konsumenten sind fremdartige, nicht einheimische Pflanzen, weil sie die Gesundheit der Konsumenten bedrohen oder ihnen schlicht nicht schmecken: Sogenannte Zierpflanzen. Weder der Begriff Schädlinge, noch das Vorhandensein von Zierpflanzen ist in der Definition des Begriffes Ökosystem zu finden.

Ein solcher Friedhof ist ein Gesamtkunstwerk aus Skulptur und Gartengestaltung. Man schmückte die Gräber mit Sträuchern, mit Statuen und wertvollen Steinen und pflanzte dazwischen Blumen zur Dekoration.

Friedhofsämter, die sich damit begnügen, die Wiesen zwischen den Gräbern nur zweimal jährlich zu mähen, werden mit sprießenden Wildblumen belohnt, mit bunten Faltern, die von Blüte zu Blüte schweben und mit Zikaden, die im Gras verborgen Zirpkonzerte geben. Nutzlose Flächen kennt die Natur nicht: Selbst im Umkreis von Kompostgruben wächst – so man sie lässt – eine Vielzahl von Kräutern, die Lebensgrundlage für Käfer, Bienen und Heuschrecken sind.

Der alte Friedhof am Waldalgesheimer Naturschutzgebiet, durch seine besondere Lage am Naturschutzgebiet sicherlich einzigartig und doch vergleichbar mit jenen Friedhöfen in der Region, die über einen traditionell erhaltenen älteren Abschnitt verfügen.                Efeu wächst traditionell auf allen Friedhöfen, denn als immergrünes Gewächs symbolisiert die Kletterpflanze Auferstehung und ewiges Leben. Im Vergleich zu vielen alten Friedhöfen wird auf dem modernen Friedhof das Efeu stark beschnitten oder jährlich ausgetauscht, damit es nicht wuchert und keine zu starken Wurzeln bildet. Gerade Efeu bietet aber zahlreichen Insekten Lebensraum, diese ihrerseits dienen Vögeln und Igeln als Nahrung. Im dichten Gestrüpp alter Eiben- und Hainbuchen-Hecken suchen sich Eidechsen, Waldmäuse und Igel ihre Beute. Gebüschbrüter wie Zilpzalp, Heckenbraunelle und Mönchsgrasmücke bauen hier ihre Nester, bodenbrütende Singvögel fühlen sich sicher im Schutz des dichten Grüns. Überall dort, wo der Mensch seine Ordnungsliebe zügelt, gedeiht das Leben: Der alte Friedhof  in Waldalgesheim ist dafür, wie im übrigen viele alte Friedhöfe,  ein wunderbares Beispiel: Streifenfarn krallt sich in Bruchsteinmauerwerk, ein wärmender Pelz aus Moosen und Flechten bedeckt verwitternde Grabplatten, Bachstelze und Hausrotschwanz nisten in den Nischen der Grabsteine, Fledermäuse finden über den nahegelegenen Wasserflächen ihre Insekten-Nahrung.

Der RuheForst Rheinhessen-Nahe in Waldalgesheim, der Bestattungswald für den Landkreis Mainz-Bingen und Umgebung

KaltwassereicheIm Ökosystem Wald hat ohnehin jedes Lebewesen bzw. jede Art seine eigene ökologische Nische. In einem Mischwald leben etwa 7000 Tierarten, von denen mehr als 5000 zu den Insekten und nur rund 100 zu den Wirbeltieren zählen. Der Rest gehört zu einzelligen Organismen, Würmern, Schnecken oder Spinnentieren.

Nicht umsonst werden die Grabstätten im RuheForst als Biotope bezeichnet. Der Baum, der als wachsender Grabstein die Namenstafel trägt, bleibt durch das RuheForst-Konzept auf mindestens 100 Jahre vor Abholzung geschützt. Per Vertrag hat sich der Waldbesitzer, also die Gemeinde Waldalgesheim, jedem einzelnen Kunden gegenüber verpflichtet, den ausgewählten Biotopbaum so lange wie möglich zu erhalten und, sollte das nicht möglich sein, eine Ersatzpflanzung mit standortgerechten Baumarten vorzunehmen. Aus dem momentan rund 100- jährigen Bestand wird also durch die besondere Nutzung ein 200-jähriger. Diese alten Wälder sind für uns in Deutschland sicherlich eine Besonderheit. So hinterlässt man der nächsten, bzw. übernächsten Generation einen Wert, der sich heute nur schwer abschätzen lässt.

Friedhöfe, so verschieden sie auch sein mögen, sind nicht nur Orte des Todes und des Abschieds, sondern auch Orte des Glaubens und der Hoffnung  und ganz besondere Lebens(T)räume.

Autorin: Simone Naujack

 

 

 

Quellen:

G. Czihak/ H. Langer/ H. Ziegler; Biologie, Springer-Verlag, 1990

R. Claus/R. Frank/J. Schweizer; Natura, Klett-Verlag, 1994

R. Hausfeld/W. Schulenberg; Bioscop; Westermann-Verlag, 2009

K. Richarz; Natur rund ums Haus: Expedition in die heimische Tierwelt, Kosmos-Verlag 2002

Dr. R. Gerstmeier; Steinbachs großer Naturführer; Mosaik-Verlag, 1991

Außerdem wurden folgende Internetseiten verwendet:

http://www.wald.de

http://www.wikipedia.de

http://www.nabu.de